„Heute wieder am Feuerwehrteich treffen?“ „Klar, gleich nach der Schule.“ Es ist der zentrale Treffpunkt in unserem kleinen Dorf östlich von Hamburg. Frank, Thomas und ich gehen auf das Ende der Grundschulzeit zu, Mitte der 1970er Jahre.
Am Teich stehen Weiden. Geniale Versteckmöglichkeiten und Material für unser Lieblingsspiel. Wir spielen „Held“. Helden, die wir aus Comics und aus dem Fernseher kennen. Frank hat österreichische Wurzeln. Uns kümmert es nicht, wer wo herkommt. Wir eifern alle den gleichen Vorbildern nach.
Jeder hat seine Lieblingsfiguren. Meine heißen Tim und Struppi, Supermann und Tarzan. Helden gibt es in jeder Generation. Aber ein Held sticht hervor. Genau genommen ist er gar kein Held. Zumindest nicht im klassischen Sinne. Unser Lieblingsheld verfügt über keinerlei Super-Kräfte. Ganz im Gegenteil. Im Fernsehfilm trägt er Strumpfhosen, lebt auf Bäumen und schnitzt sich seine Ausrüstung aus Ästen und Zweigen. Die Rede ist natürlich von Robin Hood. Vielleicht war es die Nähe zum Sachsenwald, in dem wir oft rumturnen oder die Leichtigkeit, seine Waffen nachbauen zu können, die uns zu begeisterten Fans von ihm machen. Mit dem eigenen Fahrtenmesser und der Paketschnur aus Mutters Schublade entsteht am Nachmittag in Windeseile ein neuer „Flitze“-Bogen.
Gerechtigkeit ist der zentrale Begriff, den wir mit Robin Hood in Verbindung bringen. Und auch heute ist es oft das erste Wort, das Menschen in den Mund nehmen, wenn Sie über den genialen Bogenschützen sprechen. Wohlwissend, dass er nie existiert hat. Nur als Legende in Erzählungen, in Gedichten und in Liedern.
In unserem Dorf leben auch ältere Jungs. Gar nicht so viel älter. Aber in diesem Lebensabschnitt sind 2-3 Jahre wahnsinnig viel. Sie sind kräftiger als wir und hin und wieder gibt es Streit mit den Großen. Und wir haben Angst. Im Spiel arbeiten wir unsere Ängste auf. Ohne es so zu verstehen. Im Spiel wird Gerechtigkeit wieder hergestellt, wenn uns vorher Reiner oder Kalle verkloppt hat. Wir wissen auch in diesen jungen Jahren ganz genau, was dieses Wort bedeutet: Gerechtigkeit. Ich bin sehr davon überzeugt: jeder aufwachsende Junge entwickelt schon früh einen Sinn dafür.
In letzter Zeit stelle ich mir immer häufiger die Frage: Wenn wir so früh in unserem persönlichen Entwicklungsprozess ein Gefühl für Gerechtigkeit entwickeln: Warum nur vergessen wir all das in den kommenden 20 Jahren auf dem Weg ins Berufsleben, was wir darunter verstehen? Im Joballtag, wo es gut wäre, sich des Wortes Gleichbehandlung zu erinnern und sein denken und handeln daran auszurichten?
Etwa 20 Jahre später bin ich als Vertriebsleiter tätig. Die Umsätze entsprechen nicht den Vorstellungen des Inhabers. Ich erhalte eine klare Ansage: „Du musst einen Deiner Verkäufer rausschmeißen, damit sich die anderen wieder mehr Mühe geben.“ Aha…
Es ist mein erster Job mit Personalverantwortung und ich bin so grün wie einst mein Kindheitsheld… hinter den Ohren. Vergessen sind die Tugenden, die unser Spiel in der Kindheit geprägt haben. Kein Mut, mich aufzulehnen. Ich muss also einen meiner Außendienstler entlassen. Er hat keinerlei Vorahnung dafür Famile. Ich verabrede mich mit ihm aus fadenscheinigen Gründen, um ihm die Kündigung zu überreichen. Nie zuvor habe ich mich so schäbig gefühlt und gelcihzeitig so machtlos. Ich empfinde heute noch Ungerechtigkeit, denn es ging nur darum mit ihm ein Exempel zu statuieren. Seine Entlassung ergab überhaupt keinen Sinn.
Ich versuche mich heute bei Entscheidungen zu fragen:
Ergibt diese Entscheidung Sinn?
Woran mache ich das fest?
Ergibt es wirklich Sinn oder erreiche ich bloß einen Show-Effekt ohne Wirkung?
In schnellen und unübersichtlichen Zeiten ist es anspruchsvoll, sich diese Zeit zu nehmen. Daher ist es bleibt es auch eine Kern-Aufgabe von Menschen mit Verantwortung - in beruf und Gesellschaft.
Die Umsatzsituation hat sich seinerzeit übrigens nicht geändert. Nur die Angst der Mitarbeiter wurde größer.
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